Herbst 1944. Viele am Rhein dachten, der Krieg geht zu Ende. Kaum jemand fürchtete die alliierte Invasion: Je früher, desto besser. Darum holte der Bäckermeister Vincken seine ausgebombte Familie, seine Frau und den zwölfjährigen Sohn Fritz, in seine Nähe in die Ardennen, wo er dienstverpflichtet war, um für die Wehrmacht Brot zu backen. Auf einem Kübelwagen brachte er die beiden nach stundenlanger Nachtfahrt den Amerikanern entgegen in eine leer stehende Baracke, die versteckt in einer Lichtung stand.
Aber die Front versteifte sich. Im Dezember kam es sogar zu einer Gegenoffensive. Tief eingeschneit harrten die zwei nach wie vor in der Hütte aus. Dem Vater fiel es aber immer schwerer, seine Familie zu versorgen. So kam der Heilige Abend 1944. Sein Sohn Fritz hat später aufgeschrieben, was damals geschah:
Wir hörten den ganzen Tag das dumpfe Dröhnen alliierter Kampfflugzeuge. Es war bitterkalt. Mutter bereitete am Ofen im spärlichen Licht einer Kerze eine Hühnersuppe. Vater war unterwegs, um zu organisieren. Auf einmal klopfte es an der Tür. Erschrocken zuckte ich zusammen und sah, wie Mutter hastig die Kerzen ausblies. Es klopfte wieder. Wir fassten uns ein Herz und machten auf. Draußen standen zwei Männer mit Stahlhelmen. Einer sprach in einer fremden Sprache und zeigte auf einem dritten, der im Schnee lag. Wir begriffen: Diese Männer sind amerikanische Soldaten. Mutter stand regungslos neben mir. Sie waren bewaffnet und hätten ihr Eintreten erzwingen können, doch sie standen da und fragten mit den Augen. Der im Schnee Sitzende schien mehr tot als lebendig.
"Kommt rein !", sagte Mutter mit einer einladenden Geste. Einer von ihnen konnte sich mit meiner Mutter auf Französisch verständlich machen. Mutter kümmerte sich um den Verwundeten. Am Ofen sitzend wich die Kälte von ihnen. Die Lebensgeister stellten sich wieder ein. Die drei waren versprengte, hatten ihre Einheiten verloren und waren seit Tagen im Wald umhergeirrt.
Mutter trug mir auf: "Geh, bring noch sechs Kartoffeln." Sie zündete eine zweite Kerze an und schnitt die gewaschenen, ungeschälten Erdäpfel in die Suppe hinein. Sie zu schälen wäre damals eine Verschwendung gewesen. Der Verwundete hatte viel geblutet und lag teilnahmslos und still. Mutters Suppe verbreitete einen einladenden Duft. Ich war gerade dabei, den Tisch zu decken, da klopfte es wieder an die Tür. Ich erwartete weitere versprengte Amerikaner und öffnete ohne Zaudern. Es waren Soldaten, vier Mann, und alle bis an die Zähne bewaffnet. Die Uniform war mir vertraut. Das waren unsere Soldaten der Wehrmacht. Ich war vor Schreck wie gelähmt. Obschon ein Kind, wusste ich: "Wer den Feind begünstigt, wird erschossen!“ War das unser Ende?
Mutter trat heraus. Ihre gefasste Stimme beruhigte mich etwas: "Ihr bringt eisige Kälte mit, wollt ihr mit uns essen?", entfuhr es ihr. Damit hatte sie den richtigen Ton gefunden. Die Soldaten grüßten freundlich und waren sichtlich froh, am Heiligenabend im Grenzland der Ardennen zwischen den Fronten Landsleute gefunden zu haben. "Dürfen wir uns etwas aufwärmen?", fragte der Rangälteste, ein Unteroffizier. "Vielleicht können wir bleiben bis morgen?" .
"Natürlich", antwortete Mutter herzlich und fügte dann mutig hinzu: "Es sind bereits drei Durchfrorene hier, um sich aufzuwärmen. Macht jetzt bitte am Heiligabend keinen Krawall!" Der Unteroffizier hatte begriffen. Barsch verlangte er zu wissen: "Amis?"
Mutter sah jeden einzelnen an und sagte langsam: "Ihr könntet meine Söhne sein und die da drinnen auch. Einer ist verwundet, gar nicht gut dran. Die anderen sind so hungrig und müde wie ihr."
Dann sagte sie zum Unteroffizier: "Es ist Heiligabend; hier wird nicht geschossen!"
Der starrte sie an. Für zwei, drei endlose Sekunden; doch Mutter sagte entschlossen: "Legt das Schießzeug auf das Holz und kommt rein!"
"Tut was sie sagt!", knurrte der Unteroffizier.
Wortlos legten sie ihre Waffen in den Schuppen, in dem wir unser Holz aufbewahrten: Drei Karabiner, zwei Pistolen, ein leichtes Maschinengewehr und zwei Panzerfäuste. Den Amerikanern war der Feind nicht verborgen geblieben. Mit dem Mut der Verzweiflung waren sie willens, sich zur Wehr zu setzten. Als alle in der kleinen Stube waren, schienen sie ratlos. Mutter aber war in ihrem Element. Lächelnd suchte sie für jeden eine Sitzgelegenheit. Wir hatten drei Stühle, aber Mutters Bett war groß. Man schwieg sich an, es lag eine Gespanntheit in der Luft. Mutter machte sich wieder ans Kochen. Der Verwundete stöhnte laut auf. Einer der Deutschen beugte sich über ihn. "Sind sie Sanitäter?" fragte Mutter. Er erwiderte: "Nein, aber ich habe bis vor wenigen Monaten in Heidelberg Medizin studiert." Dann erklärte er den Amerikanern auf Englisch: "Die Wunde ist dank der Kälte nicht entzündet. Aber er hat Blut verloren und braucht Ruhe und kräftiges Essen."
Jetzt löste sich die Spannung. Der Unteroffizier nahm aus seinem Brotbeutel eine Flasche Rotwein, ein anderer legte ein Kommissbrot auf den Tisch. Mutter schnitt das Brot in Scheiben. Von dem Wein füllte sie etwas in den Becher; "Für den Kranken!" Der Rest wurde aufgeteilt. Jetzt war alles für das Weihnachtsmahl vorbereitet. Zwei Kerzen flackerten auf dem Tisch. Am Kopfende saß Mutter auf einer improvisierten Sitzgelegenheit. Bei uns zu Hause war es nicht üblich, laut vor dem Essen zu beten. Doch nun war alles anders. Es war eine feierliche Stimmung. Keinem wäre es eingefallen, sich ohne weiteres über das Mahl herzumachen. Wir fassten einander an den Händen. Mutter sprach mit ergreifender Innigkeit, als ob sie Weihnachten verkündet: "Komm, Herr Jesus, und sei unser Gast ..." Sie schloss mit den Worten: "Und bitte, mach endlich Schluss mit diesem Krieg!"
Als ich mich in der Runde umsah, bemerkte ich Tränen in den Augen der Soldaten. Und niemand schämte sich.
Schließlich gingen wir schlafen. Ich fand noch in Mutters Bett Platz. Nach einem kargen Frühstück zeigte der Unteroffizier den Amerikanern den Weg zu den amerikanischen Linien. Ein deutscher Kompass wechselte den Besitzer. "Passt auf, wo ihr geht. Viele Wege sind vermint. Wenn ihr eure Jabos (Jagdbomber) hört, winkt ihnen wie der Teufel." Der Mediziner übersetzte ins Englische. Dann bewaffneten sie sich wieder. Alle umarmten sich fröhlich; man versprach sich wieder zu sehen. "As soon as this damn war is over!" (Sobald dieser verdammte Krieg vorüber ist!).
In ganz Amerika ist diese Begebenheit bekannt, in der Feinde zusammentrafen und als Kameraden auseinander gingen. Der frühere amerikanische Präsident Roland Reagan schrieb im Juli 1985 an Fritz Vincken:
"Während meiner Reise nach West–Deutschland habe ich vom Mut Ihrer Mutter und von Ihrem Mitleid während des Krieges gesprochen. Sie hat junge amerikanische und deutsche Soldaten gleichzeitig aufgenommen und das Mahl an Heiligabend mit ihnen geteilt. Ihre Geschichte muss für immer wieder erzählt werden, weil keiner von uns zu viel über Frieden und Versöhnung hören kann.
Das vertrauensvolle Gebet Ihrer Mutter zum Fürst des Friedens:
'Komm Herr Jesus, sei mit uns' vor dem Essen am Heiligen Abend bleibt eine zeitlose Unterweisung für uns alle."
Fritz Vincken
In der US-Fernsehserie 'Ungelöste Geheimnisse' kam es im Januar 1996 zu einem Wiedersehen von Fritz Vincken mit den Amerikanern. Einer von ihnen besaß noch immer den deutschen Wehrmachtskompass, von dem er sich nie getrennt hat.